Lebende Denkmäler

Parchim hat eine lange Stadtgeschichte. Sie steht auf Stolpersteinen, auf Gedenktafeln, an Hauswänden, auf Gehwegen. Manche Denkmäler sind allseits bekannt, andere gut versteckt, manche fast vergessen. Das Wildwechsel-Festival hat Parchims Denkmälern Leben eingehaucht und die Besucher auf einen Spaziergang eingeladen – zu neun Orten, an denen die Vergangenheit allgegenwärtig wird.

Fragen an der KirchenwandFragen an der Kirchenwand

Die erste Station des Stadtspaziergangs ist die Pfarrkirche St. Georgen. Sie steht seit 1289 im Zentrum der Altstadt. Aus der Kirche dringt der Klang einer Tuba. Davor ist ein Labyrinth mit Kreide auf den Boden gemalt. In den Sackgassen liegen Boxen mit Karten. Auf ihnen stehen Fragen, die aus dem Theaterstück „Albirea“ entlehnt wurden:

„Ist ein Ende in Sicht? Wer hat sich das alles ausgedacht?“
„Und du musst fragen: Warum. Und immer wieder ‚warum‘. Nur so kann Deine Wunde heilen.“

Wie die Besucher mit den Fragen umgehen, ließ das ATZE Musiktheater offen. Einige von ihnen klebten die Karten zu Mustern und Sternen auf eine silbernen Folie. Andere nahmen sie mit nach Hause als Denkanstoß. Eine Inszenierung von:
ATZE Musiktheater
Denise Dröge (Konzeption)
Jana van Beek (Konzeption)
Philipp Haagen (Tuba)


Das Schicksal der Familie Ascher

Der Weg führt durch die Altstadt zu einem leerstehenden Kaufhaus in der Lindenstraße. Es gehörte einmal der jüdischen Familie Ascher. Vor dem Gebäude wurde ein Stolperstein in den Boden gelassen. Er erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus, die in Parchim lebten und wirkten. Zu ihnen gehören auch Emil und Gertrud Ascher. Sie überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht. Svea Bein, Schauspielerin am Jungen Staatstheater Parchim, spricht in der Rolle der Jüdin:

„Am 14. September 1885 wurde ich als Gertrud Rosenbaum in Hannover geboren. 1920 heiratete ich meinen Mann Emil Ascher. Drei Kinder hatten wir: Kurt, Rolf und Max aus erster Ehe, der als einziger überlebte. 1941 deportierte man mich, Emil und Rolf ins Ghetto nach Minsk.“

„Seitdem existieren wir nur noch als Lücke, als eine Erinnerung, als Mahnmal für eine der größten Grausamkeiten der Menschheit. Pass auf, dass so etwas nie wieder passiert!“

Eine Inszenierung von:
Junges Staatstheater Parchim
Schauspielerin: Svea Bein
Konzept & Text: Christian Lindlein


„Habt politische Attention, doch vor allem bleibet Menschen“

Die Spaziergänger erreichen die Parchimer Goethe-Schule. Auf den Treppen des alten Gebäudes steht ein junger Mann. In der lyrisch-musikalischen Performance von Benjamin Vinnen geht es um den Schriftsteller Erich Mühsam, der für die Freilassung politischer Gefangener kämpfte und eindringlich vor dem nahenden Faschismus warnte. In Lübeck wurde der junge Mühsam wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ der Schule verwiesen und erhielt im Friedrich-Franz-Gymnasium in Parchim 1896 seine Mittlere Reife.

„Weil er gegen Faschisten kämpfte, kam es, dass man seine Stimme dämpfte. Eine Stimme, die vor allem sagte: Habt politische Attention, doch vor allem bleibet Menschen.“




Mühsam wurde in der Nacht des Reichstagsbrandes von Nationalsozialisten verhaftet und am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Eine Inszenierung von:
TDJW Leipzig
Konzept & Performance: Benjamin Vinnen


Johann Jakob Engel: Auf der Suche nach Wahrheit

Ein weißer Transporter steht auf dem Seitenstreifen. Die Schauspielerin Lola Mercedes Wittstamm bittet die Besucher in den Wagen. Wer traut sich? Die Tür wird geschlossen. „Es hat etwas von Kidnapping“, sagt ein Gast. In der Inszenierung des tjg. Dresden geht es um Johann Jakob Engel. Der Philosoph und Dichter der Aufklärung wurde 1741 in Parchim geboren. Mit nur 16 Jahren verfasste er in seiner Heimatstadt sein erstes literarisches Werk mit dem Titel „Denkmal der Liebe und Ehrfurcht“. Später wurde er auf einer Stufe mit Schiller, Goethe und Herder gesetzt: Er galt als Wegbereiter der modernen Erzähltheorie.
Der Transporter, in dem eine interaktive Inszenierung über Wahrheit und Lüge stattfindet, parkt vor jenem Haus in Parchim, in dem Johann Jakob Engel 1802 starb. Eine Gedenktafel erinnert an den Sohn der Stadt. Stadthistoriker Wolfgang Kaelcke lag es schon lange am Herzen: „Es war an der Zeit, dass Parchim einem seiner größten Söhne ein angemessenes Denkmal setzt.“ Engel philosophierte über Wahrheit und Verstellung. Sein berühmter Ausspruch aus dem Fürstenspiegel ist heute in Parchim verewigt: „Verstellung ist für edle Seelen unerträglicher Zwang, ihr Element, worin sie leben, ist Wahrheit.“

Eine Inszenierung von:
tjg. Dresden
Schauspielerin: Lola Mercedes Wittstamm
Konzeption: Christoph Macha & Nils Zapfe


Lachen deiht good: Der Dichter Rudolf Tarnow

Die Gruppe schlendert weiter durch die Parchimer Altstadt. Auf der Schwelle eines alten Hauses steht Günther Lindner vom Theater o.N. aus Berlin. Auf dem Sassenhagen 51 befindet sich das Haus, in dem der niederdeutsche Dichter Rudolf Tarnow seine Kindheit verlebte. Eine Tafel erinnert heute an den gebürtigen Parchimer. Tarnows Verse und Witze gehören zu den Dauerbrennern, die die niederdeutsche Literatur zu bieten hat. Lindner führt in seiner Inszenierung durch das Leben des Schriftstellers. Als Kaufmann, Soldat und Dichter legte Tarnow eine ungewöhnliche Karriere hin. Seine Nähe zum Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg überschattet die frohsinnigen Verse des Schriftstellers.



Eine Inszenierung von:
Theater o.N.
Konzept & Performance: Günther Lindner


Graf Moltke: Wirbel um den Webel

Am prominenten Moltkeplatz im Zentrum der Kreisstadt wartet Jakob Kraze vom Theater an der Parkaue. Der Schauspieler sieht aus, als wäre Moltke persönlich von dem knapp drei Meter hohen Denkmal hinuntergestiegen. Mit seinem Monolog erweckt Kraze das Denkmal und damit den Feldherren und Generalfeldmarschall zum Leben. Helmuth Karl Bernhard von Moltke wurde 1800 in Parchim geboren. Er stand für strategische Kriegsplanung, der Kampf am Reisbrett wurde für ihn zum Planspiel. Die Inszenierung kritisiert diese Haltung, die zum Vorbild in der Führung moderner Massenheere wurde. Karola Marsch, Leitende Dramaturgin und Theaterpädagogin am Berliner Theater an der Parkaue sagt: „Dass also ein zeitgenössisches Führungsprinzip mal wieder aus einer militärischen und militaristischen Ecke kommt, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Krieg mit all seiner Zerstörung neben dem Schlachtfeld ein Raum für technisches, organisatorisches Ausprobieren ist. Innovation und Perversion geben sich die Hand. Es ist erschreckend, grausam und findet doch statt.“

Eine Inszenierung von:
Theater an der Parkaue
Schauspieler: Jakob Kraze
Konzeption: Karola Marsch


Kampflos übergeben: Die Alte Parchimer Post

Ein junger Mann sitzt vor der Alten Post in Parchim. Mit Hut, Schal und Mantel sieht er aus wie aus der Zeit gefallen. Richard Barborka hat sich auf den Stadtspaziergang mit einem Video von den Hortkindern der Adolf-Diesterweg-Schule vorbereitet. Die Alte Post war maßgeblich bei der kampflosen Übergabe der Stadt Parchim an die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges. Über das Fernmeldeamt wurde die Stadt Parchim am 3. Mai 1945 kampflos an die Rote Armee übergeben. Die damaligen Akteure konnten so verhindern, dass 1945 große Teile Parchims vernichtet wurden. „Ich fand die Funktion des Fernmeldeamtes als Vermittler ungemein wichtig und die damaligen Möglichkeiten der Kommunikation gerade aus heutiger Sicht sehr abstrakt. Ich habe mich dann bemüht, diesen Kasten zu bauen, um ein stellvertretendes Objekt für das Fernmeldeamt zu zeigen“, erklärt Richard Baborka zu seiner Inszenierung.

Eine Inszenierung von:
Puppentheater Magedeburg
Konzept & Performance: Richard Barborka


Ein Parchimer Baumeister

Unweit des Parchimer Stadthauses stehen Sandburgen – ein Sinnbild für den hiesigen Städtebau. Das Berliner Theater Strahl befasst sich hier mit einem Architekten, der das Parchimer Stadtbild bis heute prägt: Werner Cords, der seinem Familiennamen selbst den seiner Heimatstadt hinzufügte und somit auch als Werner Cords-Parchim bekannt war. In der Gartenstraße, Putlitzer Straße, auf dem Fischerdamm und an weiteren Orten ist die Handschrift des Architekten deutlich zu erkennen. Heute wurde dem talentierten Baumeister sogar eine eigene Straße gewidmet. Cords verstarb 1954 in Dresden und wurde auf dem von ihm entworfenen Neuen Friedhof in Parchim beigesetzt.

Eine Inszenierung von:
Theater Strahl
Konzeption & Performance: Karen Giese
Konzeption: Zeyki Temizbas


Lebendes Denkmal

Einmal als jemand ganz Großes geehrt zu werden, erinnert, gesehen – Ist das möglich? Das Wildwechsel Festival 2019 sagt, ja! In einem Denkmal der Gegenwart wurde der Moment der Zusammenkunft künstlerisch festgehalten und als Erinnerung verewigt. Den Abschluss des Stadtspaziergangs bildete eine große Spontan-Inszenierung mit allen Beteiligten vor dem Parchimer Stadthaus.

Das Schlussbild als Symbol für das Beieinandersein. Die Stadt Parchim erhielt das Bild als Erinnerung.

Das Projekt „Denkmäler der Vergangenheit – Denkmal der Gegenwart“ wurde realisiert in Kooperation mit dem Heimatbund und unterstützt durch eine Förderung der Bürgerstiftung Parchim.

Live-Inszenierung: Mirko Winkel
Drohne & Fotografie: Olaf Märtin


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